Sturmflutprognosen mit KI – Machine Learning als Werkzeug für nachhaltige Anpassung an Extremereignisse

22. September 2025 | Digitalisierung, Einblicke & Perspektiven, Klima & Energie

Hitze, Dürren, Starkregen, Überschwemmungen – Extremwetterereignisse werden im Zuge des Klimawandels häufiger, intensiver und unberechenbarer. In vielen Regionen gehören sie längst zum Alltag. Für eine gestärkte und nachhaltige Anpassung an den Klimawandel ist es daher wichtig, nicht nur auf Änderungen des durchschnittlichen Klimazustands in der Zukunft zu schauen, sondern sich auch gezielt auf extreme Ereignisse vorzubereiten. Dabei hilft ein Werkzeug, das inzwischen in nahezu alle Lebensbereiche Einzug gehalten hat: Künstliche Intelligenz (KI). Sie kann komplexe Zusammenhänge in großen Datenmengen erkennen und so die Grundlage für Frühwarnsysteme, Risikoanalysen und langfristige Anpassungsstrategien schaffen.

KI als Sinnesorgan für Extremwetter

Im Gegensatz zu klassischen Wetter- oder Klimamodellen basiert KI nicht auf physikalischen Gleichungen, sondern auf Daten. Sie lernt, Muster im vermeintlichen Chaos zu erkennen und komplexe Strukturen in vereinfachte Kategorien zu übersetzen – ähnlich dem menschlichen Gehirn. Unser Nervensystem ordnet den Datenstrom, den unsere Sinnesorgane liefern, in Echtzeit einer Bedeutung zu. Dadurch sind Land unter am Hamburger Fischmarkt während einer Sturmflut im Februar 2020 wir beispielsweise in der Lage, Objekte in unserem Sichtfeld oder Geräusche zu erkennen. So wie wir als Kinder lernen, Dinge anhand bestimmter Merkmale zu unterscheiden, kann eine KI lernen, in Datenmengen relevante Merkmale zu identifizieren – und damit ebenfalls zwischen verschiedenen „Dingen“ zu unterscheiden.

Sturmflutprognosen für das nächste Jahrzehnt

Ein konkretes Beispiel für den erfolgreichen Einsatz dieser Technik ist eine neue Methode zur dekadischen Sturmflutprognose an der Nordseeküste, die wir an der Universität Hamburg entwickelt haben. Unsere globalen Klimamodelle liefern großräumige Vorhersagen für das Sturmklima über Europa – und das bis zu zehn Jahre im Voraus mit vergleichsweise hoher Treffsicherheit. Doch wie sich dieses Sturmklima an bestimmten Orten an der Küste konkret auswirkt, können klassische Modelle nicht präzise genug abbilden. Bisher musste man für solche Vorhersagen regionale Modelle an die globalen Klimamodelle ankoppeln – ein sehr rechenintensives und aufwändiges Verfahren. Mithilfe von KI lässt sich dieser Schritt nun deutlich verkürzen.

Wir trainieren ein künstliches neuronales Netzwerk (KNN), das aus dem großräumigen Zustand der Atmosphäre – also der Wetterlage über Europa – den zu erwartenden Wasserstand an der Nordseeküste berechnet. Um bei der Analogie zum menschlichen Gehirn zu bleiben: So wie Sie beim Blick auf ein Foto des Haustiers Ihres Nachbarn automatisch erkennen, ob es sich um eine Katze oder einen Hund handelt, erkennt das KNN beim Blick auf eine Wetterkarte – gewissermaßen ein „Foto“ der Atmosphäre –, ob das Wasser an der Küste einige Stunden später hoch oder niedrig stehen wird.

Sobald das KNN trainiert ist, kann es innerhalb von Sekunden aus den Vorhersagen eines Klimamodells konkrete Aussagen über die Sturmfluthöhen in Cuxhaven, Esbjerg oder Delfzijl generieren – und das für die nächsten zehn Jahre. Der Vorteil ist enorm: Küstenschutzbehörden, Kommunen oder Planungsbüros erhalten ein Werkzeug, das sie bei der mittelfristigen Planung unterstützt – und das deutlich schneller als herkömmliche Methoden.

Warum genau diese drei Orte? Der Grund liegt im hohen Datenbedarf der KI. Damit sie effizient und zuverlässig lernen kann, benötigt sie möglichst viele Daten. Cuxhaven, das dänische Esbjerg und Delfzijl in den Niederlanden bieten genau das: detaillierte Wasserstandsbeobachtungen über mehrere Jahrzehnte hinweg. Diese Beobachtungen, kombiniert mit ebenso umfangreichen Wetteraufzeichnungen über Europa, ermöglichen ein robustes und möglichst fehlerarmes Training der KI.

Nachhaltigkeit durch vorausschauende Anpassung

Was bedeutet das für die Praxis? Küstenschutz ist teuer – und gleichzeitig zwingend notwendig. Doch nicht jede Deicherhöhung oder jeder Rückzugsraum kann sofort realisiert werden. Hier helfen Prognosen in 10-Jahres-Zeiträumen, Prioritäten zu setzen. Wenn etwa eine Region in den kommenden zehn Jahren besonders häufig von Sturmfluten betroffen sein wird, können Schutzmaßnahmen gezielt vorgezogen oder anstehende Reparaturen regional priorisiert werden.

Ähnliches gilt für andere Extremereignisse: In der Landwirtschaft helfen KI-gestützte Vorhersagen zu saisonalen Trockenphasen dabei, Anbaustrategien anzupassen oder Wasserspeicher effizienter zu bewirtschaften. Ebenso können KI-basierte Verfahren frühzeitig Temperatursignale im Ozean erkennen, die auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für heiße Sommer über Europa hinweisen. Und bei Starkregenereignissen ermöglicht KI eine dynamische Einschätzung der Überflutungsgefahr auf Basis aktueller Wetterdaten – etwa zur Steuerung von Hochwasserrückhaltebecken oder zum kurzfristigen Schutz kritischer Infrastruktur.

Jedes System hat Grenzen

Doch so leistungsfähig KI auch ist – sie ist kein Wundermittel. Künstliche Intelligenz ist nur so gut wie die Daten, mit denen sie trainiert wurde. Sie „versteht“ keine physikalischen Zusammenhänge, sondern erkennt lediglich statistische Muster. Diese Muster lernt die KI dann besonders gut, wenn ihr eine große und vielfältige Datengrundlage zur Verfügung steht. In unserem Beispiel der Sturmflutprognosen nutzen wir über 700.000 Beobachtungen von Wasserständen an der Küste, gepaart mit ebenso vielen Wetterkarten über Europa. Solche Datenmengen sind jedoch nicht für alle Extremereignisse verfügbar, was den Einsatz von KI je nach Anwendungsbereich stark einschränken kann. Gerade deshalb ist es wichtig, KI in der Extremereignisforschung nicht isoliert zu betrachten. Vielmehr ist sie ein weiteres, bedeutendes Puzzleteil auf dem Weg zu einem besseren Verständnis unserer Erde und der Prozesse, die auf ihr ablaufen.

Fazit

KI bietet große Chancen für eine nachhaltige Anpassung an den Klimawandel – insbesondere, wenn es darum geht, sich gezielt auf Extremereignisse vorzubereiten, diese frühzeitig zu erkennen oder die zugrundeliegenden Zusammenhänge besser zu verstehen. Sie ergänzt klassische Wetter- und Klimamodelle um schnelle, effiziente und ortsspezifische Werkzeuge, die Entscheidungsträgern in unserer Gesellschaft einen erweiterten Handlungsspielraum eröffnen. Unser Beispiel der dekadischen Sturmflutprognosen zeigt: Das ist keine Zukunftsmusik – sondern Realität.


Dies ist ein Beitrag aus BAUM Insights 4/2025.

Der Autor, Daniel Krieger, Ph.D., studierte Meteorologie und promovierte in Erdsystemwissenschaften in Hamburg. Aktuell forscht er am Max-Planck-Institut für Meteorologie zur Vorhersagbarkeit von Klimaextremen in Europa auf Zeitskalen von bis zu 20 Jahren. Sein Interesse an Extremwetter reicht zurück bis in die früheste Kindheit.

Land unter am Hamburger Fischmarkt während einer Sturmflut im Februar 2020
Land unter am Hamburger Fischmarkt während einer Sturmflut im Februar 2020
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